Schiller

Kabale und Liebe



 Inhaltsverzeichnis Germanistik

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Schiller, Kabale und Liebe (1784) Müller, Hans-Georg, Kabale und Liebe. Klett Lektüre-Hilfen, Stuttgart 1996

 
1. SZENARIUM

I. AKT: Exposition

1. Vorstellung der Personen

* Miller: ökonomisch u. rechtlich abhängiges, aber ehr- u. traditionsbewußtes Kleinbürgertum

* Millerin: Verführbarkeit und Streben nach Höherem

* Präsident Walter: zweifelhafter Ursprung des Herrschaftsanspruchs, skrupellos regierender Adel

* Hofmarschall Kalb: zum Fürstendiener heruntergekommener Hofadel

* Sekretär Wurm: im Verwaltungsdienst aufgestiegener bürgerlicher Beamter

* Luise Miller, Ferdinand v. Walter: stehen zwischen Adel und Bürgertum

2. Konfliktauslösende Situation: Liebesbeziehung des Bürgermädchens Luise Miller mit dem adligen Major Ferdinand v. Walter

* einfaches Bürgertum <-> absolutistischen Adel bzw. bürgerliche Beamten
Szene
Hauptpersonen
Handlung
Thematik
Dramaturgie
I,1 Miller

Millerin

* Liebesbeziehung Luise - Ferdinand

* unterschiedliche Standpunkte von Miller und Millerin

* nur sexuelles Abenteuer, da eheliche Verbindung ausgeschlossen

* Problem der Liebe und Standesschranken

* naiver Aufstiegswille der Bürgerin

* Problem der Öffentlichkeit

* patriarchalische Einstellung Millers

* Selbstbewußtsein des Kleinbürgers

* in medias res

* Außensicht der Liebesbeziehung von Miller, Millerin, (Wurm)

I,2 Miller

Millerin

Wurm

* Gefahr des Bekanntwerdens der Liebesbeziehung durch Wurm

* Ablehnung Wurms als Bräutigam durch Miller und Millerin

I,3 Luise * Zwiespalt Luises: Vater - Sünderin - Ferdinand * Absolutheit der Liebe: mystisch-religiöse Vereinigung im Jenseits

* neue Erfahrung Luises: völlige Inanspruchnahme des Gefühls durch einen geliebten Menschen in Widerspruch zu Bindung an Vater und Gott

* Lösung: Liebe zu einem Menschen ist gleich Liebe zu Gott

* Innensicht von Luise (u. Ferdinand)

* Konflikt Luise - Ferdinand

* Eifersuchtsproblematik

I,4 Luise

Ferdinand

* jugendlich stürmischer Ferdinand

* Bekümmertheit Luises

* Gespräch über Problem des Standesunterschiedes

* Eifersucht Ferdinands

* Unterschiedliche Wirklichkeitssicht: Luise: vernünftelnd <-> Ferdinand: von seiner Kraft und Gefühl geleitet

* Egozentrik u. Machtanspruch über die Geliebte

I,5 Präsident Walter

Wurm

* zunächst gelassene Reaktion Walters auf das Liebesverhältnis, dann erkennt er dessen Ernsthaftigkeit

* Heiratspläne des Präsidenten: Ferdinand - Lady Milford

* Wurm erhofft eine neue Chance bei Luise

* Kritik an der höfischen Moral * höfische Gegenwelt zum Bürgertum

* weiteres Problem als zweiter Handlungsstrang: vom Präsidenten angestrebte Ehe Ferdinand - Lady Milford

* Negativ-Figuren mit kriminellen Handlungen (Neigung Schillers)

I,6 Präsident

Hofmarschall v. Kalb

* Hofschranze v. Kalb: Interesse nur für Mode und Hofklatsch

* v. Kalb macht Heiratspläne des Präsidenten öffentlich um Ferdinand zu verpflichten

* karikierende negative Kennzeichnung des Hofes
I,7 Präsident

Ferdinand

* Streitgespräch zwischen Ferdinand und Präsident wegen Heiratspläne

* Präsident erfährt von Ernsthaftigkeit der Liebe Ferdinands zu Luise und verpflichtet Ferdinand Lady Milford seine Aufwartung zu machen

* Absicht Ferdinands, Lady Milford den Spiegel seiner absoluten Moral vorzuhalten

* Ferdinands Ideal vom Glück: persönliches Glück vor Karriere, die auf Unmenschlichkeit basiert * Konflikt Präsident - Ferdinand

* Innensicht Ferdinands

II. AKT: erster Höhepunkt

* Fortführung der zwei Handlungsstränge: 

1. Heiratsprojekt des Präsidenten zwischen Ferdinand u. Milford

2. Schicksal der Millers nach Entdeckung des Liebesverhältnisses Ferdinand - Luise

Szene
Hauptpersonen
Handlung
Thematik
Dramaturgie
II,1 Lady Milford

Kammerfrau Sophie

* Lady Milford als Privatperson: Innensicht

* Liebe zu Ferdinand: Plan des Präsidenten = Lady Milfords Wunsch

* Zwiespalt: erstrebte Rolle am Hof als Mätresse des Herzogs <-> Bedürfnis als Mensch geachtet und geliebt zu werden * Vorbereitung der Begegnung Ferdinand - Lady Milford

* Komplizierung des Geschehens durch Liebe Lady Milfords zu Ferdinand

II,2 Lady Milford

Kammerfrau Sophie

Kammerdiener

* Schilderung des Verkaufs von Soldaten durch den Kammerdiener

* Entsetzen von Lady Milford u. Verkauf der Edelsteine für bedürftige Familien

* Kritik an absolutistischen Zuständen * Szene als Folie für unmenschliche Praktiken des Fürsten
II,3 Lady Milford

Kammerfrau Sophie

Kammerdiener

Ferdinand

* Begegnung Ferdinand - Lady Milford

* Ferdinand: Lady Milford als Mätresse des Herzogs Grund für Ausbeutung des Landes; keine Kenntnis der Liebe der Milford zu ihm; glaubt sich in moralisch gesicherter Position

* Lady Milford: keine Kenntnis der Liebe Ferdinand - Luise

* Ferdinands Meinungsumschlag: vertrauliches Gespräch

* offener Ausgang: Ferdinand will seinem Herzen folgen - Lady Milford will die Verbindung mit ihm realisieren

* Kontrastierung von idealistischer u. realistischer Sicht: Absolutheitsanspruch Ferdinands - Vollzug der Heirat
II,4 Miller

Millerin

Luise

* Bekanntwerden der Liebschaft durch Wurm * Schauplatzwechsel: Millers im Mittelpunkt

* äußerste Zuspitzung u. plötzliche Retardierung

II,5 Miller

Millerin

Luise

Ferdinand

* paradoxe Situation: Miller: Verzweiflung u. Angst vor dem Präsidenten - Ferdinand: innerer Konflikt durch die Lady, aber Entscheidung für Luise

* Ferdinands Entschluß, aber ohne Gefühl für seelische Not von Luise

* Luise als Opfer zwischen Absolutheitsanspruch Ferdinands u. kreatürlichen Ängsten der Eltern
II,6 u. 7 Miller

Millerin

Luise

Ferdinand

Präsident

Gerichtsdiener

* Drohungen u. Beleidigungen des Präsidenten

* Ferdinand droht, die Verbrechen seines Vaters publik zu machen -> Scheitern der ersten Intrige des Präsidenten

* Zuspitzung des dramatischen Geschehens: Willkürherrschaft <-> Untertanenangst u. Bürgerstolz; Vater <-> Sohn

* keine psychologische Plausibilität im Verhalten des Präsidenten (Einweihen seines Sohnes in seine Verbrechen); für Schiller nicht wichtig, sondern dramatischer Effekt wichtiger

* Pause

III. AKT: neuer Handlungsknoten: zweite Intrige

* Intrige ohne Rücksicht auf Menschenwürde, auch Vernichtung der Betroffenen miteingeschlossen

1. Intrigen-Plan von Wurm und dem Präsidenten

2. Aufzeigen der Entwicklung von Ferdinand u. Luise

3. Vollzug der Intrige durch Wurm an Luise

Szene
Hauptpersonen
Handlung
Thematik
Dramaturgie
III,1 Präsident

Wurm

* neuer Plan Wurms: Nutzung der Eifersucht Ferdinands

* fingierter Brief u. erzwungener Eid

* Menschenverachtung: Menschen als Objekte der Herrschenden

* Opfer sind Bürger, adeliger Ferdinand wird geschont

III,2 u.3 Präsident

Hofmarschall v. Kalb

Wurm

* Präsident zwingt den ängstlichen Kalb, bei der Intrige mitzumachen

* Verhaftung der Millers

III, 4 Luise

Ferdinand

* realistischer Fluchtplan des Majors <-> Luises Bindung an den Vater

* Bereitschaft zum Hinwegsetzen über Standesgrenzen bei Ferdinand 

<-> Bereitschaft Luises zum Verzicht

* unbegründete Eifersucht Ferdinands

* innerer Konflikt: Ferdinands Begriff von Liebe - Luises Auffassung von Pflicht

* Eifersucht Ferdinands aus übergroßer Eigenliebe

* Luise: kleinbürgerliches Bewußtsein, nichtemanzipiert, abhängig von Normen

<-> Mensch mit echten ethischen u. religiösen Bindungen, menschlichen Gefühlen

* Innensicht der Liebenden

* Peripetie

* dramatischer Liebe-Pflicht-Konflikt

III,5 u.6. Luise

Wurm

* Luise wird zum fingierte Brief erpreßt * qualvolle Szene, bedrückende Gewißheit, da Kabale so fein gesponnen

* Spannung auf den Fortgang

IV. AKT: Verzögerung des dramatischen Handlungsgangs

1. Konkretisierung der Eifersucht Ferdinands

2. Begegnung Luise - Lady Milford

3. Frage nach der dramatischen Funktion: 

* Begegnung Luise - Lady Milford: überflüssig; Verwandlung Luises aus kleinbürgerlicher Zagheit in fast hochmütigen Stolz gegenüber der Lady; heroischer Verzicht der Lady auf Ferdinand u. ihr Leben am Hof ist unplausibel

* für Schiller Vorrang von effektvoller Kontrastierung zu Lasten der Kontinuität der Figuren

* Funktion (Storz): dramatische Ökonomie: langsamer Akt nach drei schnellen Akten; Thema: Überleitung in die Katastrophe, die nicht in der Intrige berücksichtigt wurde

Szene
Hauptpersonen
Handlung
Thematik
Dramaturgie
IV,1-3 Ferdinand

Kammerdiener

Hofmarschall

* Ferdinands Irrtum: er glaubt dem Brief unbesehen

* Duellforderung gegenüber dem angeblichen Rivalen Kalb, dessen Aussage er nicht wahrnimmt

IV,4 u.5 Ferdinand

Präsident

* Ferdinand mißt seine Gefühle mit der Vorsehung; aber Umkehrung nach absoluter Idealisierung der Liebe nun zerstörerische Leidenschaft

* in seiner Verblendung wirft sich Ferdinand in die arme seines heuchlerischen Vaters

IV.6 u. 7 Lady Milford

Sophie

Luise

* entschiedene Luise - Verwirrung der Lady, Freundschaftsangebot an Luise

* Verzicht Luises zur Erpressung der Lady: schlechtes Gewissen wegen Selbstmordandrohung

* Konfrontation bürgerlicher und adeliger Moralauffassung: bürgerliche Unschuld <-> adelige Lebedame * effektvolle Präsentation des Hauptthemas
V. AKT: Katastrophe

1. Scheitern aller Figuren: Gebundenheit Luises; scheinbare Absolutheit Ferdinands; einfache Gradlinigkeit Millers; Intrige des Präsidenten u. Wurms

2. Luise als eigentlich tragische Figur: echter Zwiespalt zwischen absolut empfundener Liebe, Gebundenheit an Gott u. den Vater führt in tragische Auswegslosigkeit und ihren Untergang

3. Gericht der Transzendenz (v. Wiese): Isolierung einer amoralisch gewordenen Adelsgesellschaft <-> ohnmächtig gewordene bürgerliche Religion

* Tragik Ferdinands: Festhalten an absoluter Bindung <-> jede Bindung wird unmöglich

* Wiederkehren aller Motive des Dramas: Gedanke der ewigen, richtenden Ordnung, die dem vermessenen Willen des Einzelnen, sein Schicksal in die Hand zu nehmen, übergeordnet bleibt

* die soziale Kritik an einer unsittlich gewordenen Gesellschaft

* Subjektivismus des Herzens u. der fordernden Liebe 

* Macht des Bösen auf einer Intrige aufgebaut

Szene
Hauptpersonen
Handlung
Thematik
Dramaturgie
V,1 Luise

Miller

* Stimmung des Untergangs: Bereitschaft zum Selbstmord

* Änderung des Entschlusses: Pflicht vor Neigung

* idealistische Überwindung des Konflikts zwischen Pflicht u. Neigung (Heiterkeit Schillerscher Helden nach Überwindung eines moralischen Konflikts)
V,2 Luise

Miller

Ferdinand

* Ferdinand deutet Zwiespalt Luises als schlechtes Gewissen

* Luise kann an ihren Eid gebunden, das Mißverständnis um den fingierten Brief nicht aufklären

V,3-6 Ferdinand

Miller

Luise

* Ferdinands Entschluß, Luise zu töten

* Geldgabe an Miller; Annahme u. Hoffnung auf bessere materielle Lage

* Vermessenheit des sich absolut setzenden Ichs: 'Rache des Himmels'

* Objektcharakter der geliebten Person: fehlende Einfühlung Ferdinands in Luise u. total Verfügungsgewalt

V,7 Ferdinand

Luise

* Schweigen, dann Zynismus Ferdinands gegenüber Luises sprachlicher Hilflosigkeit

* Luises Unschuldbekenntnis im Tod (keine Bindung mehr an den Eid)

* Reaktion des Idealisten Ferdinand: Rache an Vater, nicht Zuwendung zur sterbende Luise

* Entfremdung zwischen den Liebenden * atemloser Beginn der Todesszene
Schlußszene alle Personen außer Millerin u. Lady Milford

Volk als Öffentlichkeit

* Sohn gegen Vater; vereinsamter Miller; Präsident gegen Wurm

* Ferdinands Selbstmord; Versöhnung mit dem Vater

* Präsident vor dem Gericht

* Abrechnung mit dem absolutistischen System durch Öffentlichkeit

* Triumph der sittlichen Idee u. höheren Gerechtigkeit; vorher aber Untergang der Unschuld

* wirkungsvoller Aufbau: Anklagen auf Anklagen, Enthüllungen auf Enthüllungen

* wiederum psychologische Brüche (Bekennen der Verbrechen von Wurm u. des Präsidenten; Vergebung Ferdinands gegenüber seinem Vater)

2. KOMPOSITION DES STÜCKS

1. Grundprinzipien: Symmetrie, dialektisches Prinzip (Gegensatz)

2. SYMMETRIE DER SCHAUPLÄTZE: Wechsel von bürgerlichen und adeligen Schauplatz

* I. Akt: Zimmer bei Miller - Saal beim Präsidenten

* II. Akt: Saal der Lady - Zimmer bei Miller

* III. Akt: Saal beim Präsidenten - Zimmer bei Miller

* IV. Akt: Saal beim Präsidenten - Saal der Lady

* V. Akt: einziger Schauplatz im Zimmer bei Miller

3. SYMMETRIE DES HANDLUNGSAUFBAUS

I,3: (c) Erinnerung an Idylle

I,4: (a) 1. Begegnung Ferdinand u. Luise: geheimer Gegensatz der Liebenden

II,2: (e) Lady Milford; Kammerdienerszene, Systemkritik

II,3: (f) Liebesgeständnis der Milford an Ferdinand

II,5: (b) Ferdinand schwört ewige Treue 

III,1: (d) Planung der Intrige

III,4: (a) 2. Begegnung Ferdinand u. Luise: Peripetie

(d) Eifersucht Ferdinands als Ansatzpunkt für Intrige

(c) Ferdinands Fluchtplan als verfälschte Idylle

III,6: (d) Ausführung der Intrige 

IV,7: (f) Liebesverzicht der Lady Milford gegenüber Luise

IV,9: (e) Lady Milford: Abgang; Systemkritik

IV,4: (b) Entschluß Ferdinands zum Mord 

V,7: (a) 3. Begegnung Ferdinand u. Luise: Tod und Vergebung

(c) Erinnerung an Idylle
 

3. PERSONENKONSTELLATION
 

1. GESELLSCHAFTLICHER RANG als Spiegel der ständischen Konfrontation

1. absolutistischer Hof (herrschend, Prunk, Beamte): Präsident von Walter, Ferdinand, Hofmarschall v. Kalb, Lady Milford, Haussekretär Wurm

2. Bürgerliche Welt (unterdrückt, dienend, Untertanen): Miller, Millerin, Luise, Kammerjungfer Sophie, Kammerdiener des Fürsten
 

2. EINSTELLUNG ZUR BESTEHENDEN ORDNUNG

1. für Erhalt der Ordnung: 

* Präsident u. Sekretär: Erhalt der Machtstellung; Angst vor Aufklärung der Unrechtmäßigkeit ihrer Stellung

* Hofmarschall: Existenzgrundlage als Höfling

* Sophie: Aufstieg aus Armut

* Miller: aus Selbstverständnis des Bürgertums: keine Unordnung, da Menschen äußeren Halt brauchen

2. für Veränderung der Ordnung: 

* Millerin: naiver Aufstiegswille

* Kammerdiener: Opfer der unmenschlichen Praktiken

* Ferdinand: grundsätzliche Erwägungen: Ungerechtigkeit; kein Raum für seinen Individualismus; Ehehindernis

* Lady Milford: Zwiespalt: standesgemäßes Leben durch den Fürsten u. Möglichkeit zur Milderung der Mißstände gegenüber Untertanen <-> Verzicht auf eigene Ansprüche an das Leben

3. Sonderstellung Luises:

* Akzeptanz der Ordnung: Religiosität, Bindung an den Vater

* Infragestellen der Ordnung: Liebe zu dem adeligen Ferdinand
 

3. PERSONENKONSTELLATION ENTSPRECHEND DES INNEREN KONFLIKTES

1. Gegner der Liebesbeziehung:

* Präsident: Heiratsprojekt mit der Milford

* Wurm: selbst Interesse an Luise

* Miller: Realität der ständischen Ordnung macht Ehe unmöglich

2. Befürworter der Liebesbeziehung:

* Luise: Liebe als Fügung Gottes; Vereinigung im Jenseits

* Millerin: Aufstiegswunsch

3. Zwischenstellung Lady Milfords: Möglichkeit mit Ferdinand ein neues Leben zu beginnen <-> Stimme des Herzens für Beziehung
 

4. SPRACHE IM STÜCK

0. Funktion: Charakterisierung der sozialen Ordnungen

1. Kleinbürgerliche Welt:

* Miller: derbe, unverblümte, ehrliche, direkte Sprache

* Millerin: auch sprachlich nach Höherem strebend, falsche Verwendung von Fremdwörtern

2. aristokratische Welt:

* Präsident: geschliffene, befehlende, arrogante Sprache (<-> Miller)

* Hofmarschall: dümmlich, unnatürliche Sprache, vergreift sich bei Wörtern (<-> Millerin)

* Wurm: trotz bürgerlicher Herkunft ähnliche Sprache wie Präsident; Vermischung der realistischen Ausdrucksweise des Bürgertums mit der glatten, distanzierten Sprache des Hofes

3. Sonderstellung von Lady Milford, Ferdinand u. Luise: keine ständischen Momente

* Lady Milford: Wechsel zwischen höfischer Unnatürlichkeit u. leidenschaftlicher, individueller Natürlichkeit

* Ferdinand: hohes Pathos; abstrakte Bilder oft ohne Wirklichkeitsbezug

* Luise: schlichte Sprache mit echten Empfindungen ('Ton des Herzens'); Verstummen bei sprachlich nicht ausdrückbaren Gefühlen; nicht passend: intellektuell geschliffene Sprache gegenüber Lady Milford (epigrammatische Kürze)
 

5. MEHRDIMENSIONALES SPRACHGEFLECHT (Binder)

0. Überschneidung von sozialer, intellektueller u. moralischer Dimension der Sprache

1. soziale Dimension: bei allen Personen außer bei Lady Milford, Luise, Ferdinand

2. intellektuelle Dimension: 'Kluge u. Dumme' sowohl gesellschaftlich unten u. oben

* Sprachebene zur Darstellung von Fakten, nicht zur Charakterisierung von Figuren; daher auch psychologische Unwahrscheinlichkeiten

* rationale Klarheit der Sprache, Begriffsantithesen

3. moralische Dimension: 

* Sprache der Unbedingten (Ferdinand, Luise, Lady Milford): Sprache mit Pathos, geht über Reales hinweg, liegt im genialischen u. empfindsamen Bereich; Wirklichkeitsverständnis nur im Horizont des Gefühls; kennzeichnet Standort in der metaphysischen Ordnung (?)

* Sprache der Unbedingten: realitäts- u. situationsbezogene Sprache; Gefühle nur im Horizont der Wirklichkeit
 

6. BÜRGERLICHES TRAUERSPIEL

1. Merkmale: 

* keine Ständeklausel

* Darstellung der bürgerlich-privaten Welt

* Propagierung einer bürgerlichen Tugendlehre und empfindsam-moralischer Gefühlskultur

* keine gebundene Sprache

* neue Definition von Tragik: rührende, moralische Situation ist tragisch

2. Entwicklung des bgl.Tr.:

* Aufklärung: Fragen der Moral (Emilia Galotti)

* Sturm u. Drang: soziale Anklage (Kindermörderin)

3. Kabale und Liebe

* ständeunabhängige Frage der Moral u. Tugend und konkrete Anklage bestehender Mißstände

* äußerer Konflikt: Standesunterschiede; innerer Konflikt: Ferdinands Liebesbegriff

* Zeitstück: Darstellung von Zeitverhältnissen
 

7. DRAMA DES STURM U. DRANG

1. Kennzeichen: Gefühl gegen Verstand

* schrankenloses Selbstgefühl des Individuums (Hofmeister, Soldaten, Kindermörderin)

* Kraftgenie ('großer Kerl') (Dramen Klingers, Götz)

2. Sturm u. Drang-Merkmale in Kabale und Liebe:

* Ferdinand als Prototyp des Stürmer u. Drängers

* Herz als letzte Beurteilungsinstanz

* Schillers Verhältnis zum Sturm u. Drang: verabsolutierter Subjektivismus von Ferdinand Mitursache seines Scheiterns
 

8. PROBLEMATIK DES TITELS

* ursprünglich Louise Millerin, dann auf Vorschlag von Schauspieler Wilhelm Iffland in Kabale und Liebe umbenannt; neuer Titel war publikumswirksamer

* Vorteil des alten Titels: eindeutige Kennzeichnung der Hauptfigur als bürgerliche Heldin

* Nachteile des neuen Titels: reißerisch; Irreführung, denn Hauptproblem ist nicht die Kabale, sondern die innere Entzweiung der Liebenden
 

9. Schillers TRAGÖDIENTHEORIE

0. Die Schaubühne als moralische Anstalt (1784)

1. Tragödie als Theodizee: Aufgabe des Theaters, die Ordnung der Welt als gottgeschaffen zu zeigen durch Herstellung höherer Gerechtigkeit auf der Bühne

2. Erziehungsauftrag des Theaters: Liebe zur Tugend u. Abscheu vor dem Laster

* Nachsicht, Toleranz, Läuterung der eigenen Leidenschaften durch Spiegelbild des wirklichen Lebens

3. Mittlerrolle zwischen Freiheit u. Notwendigkeit: idealischer Sieg des Individuums mit den gesellschaftlichen, sittlichen u. religiösen Zwängen: 'In dieser künstlichen Welt träumen wir die wirkliche hinweg, wir werden uns selbst wieder gegeben.'
 

10. INTERPRETATIONSANSÄTZE

1. SOZIALES DRAMA: Anklage sozialer u. gesellschaftlicher Mißstände (v.a. Deutung des dialektischen Materialismus)

* Miller: fortschrittliches Bürgertum; Ferdinand: Adelsdemokrat

2. RELIGIÖSE DEUTUNG: 'Gegenüberstellung einer vorläufigen, verzerrten, irdischen Welt gegenüber einer ewigen ' (Storz)

* eschatologisches Tribunal in der Schlußszene

3. EXISTENZIELLE DEUTUNG: moderne Interpretation (Martini)

* Luise als Mensch, der sich der Grenzen der irdischen Existenz bewußt ist; kein sinngebender Halt in der Wirklichkeit noch in der Liebe zu Ferdinand

* Problematik von Ferdinands ungehemmten Subjektivismus, er sieht sich als Vollzugsorgan einer höheren Macht
 

11. HISTORISCHE BEZÜGE zu den Zuständen in Württemberg (Herzog Karl Eugen (1737-93)

1. verschwenderische Hofhaltung, Repräsentativbauten (Lustschlösser Solitude, Hohenheim, Monrepos; Neues Schloß)

2. Auspressen der Bevölkerung

3. Mätressenwesen: Katarina Bonafini

4. Intrigen: gefälschte Briefe gegen Oberkriegsrat Rieger durch leitenden Minister Monmartin

5. Willkürherrschaft: Einkerkerung von Friedrich Daniel Schubart (1777-87), Jakob Moser

6. Soldatenverkauf an England
 

12. DIALEKTWENDUNGEN

gelt, Musje, verschmecken, Mucke, wunderhübschen Billeter, er springt über die Planke, Präsenter, barrdu, Kidebarri, halt, mehresten, Stuttierter, Halbnarr, grausamer Reichtum

 

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